Mit «La chimera» tritt Alice Rohrwacher in die Fussstapfen von Pasolini (2024)

«La chimera» erzählt von Grabräubern, die mit den Schätzen der Etrusker handeln. Ein zauberhafter Kinofilm.

Mit «La chimera» tritt Alice Rohrwacher in die Fussstapfen von Pasolini (1)

In der «Ilias» beschreibt Homer die Chimäre als feuerspeiendes Mischwesen aus einem Löwen, einer Ziege und einem Drachen. Solch eine lebhafte Phantasie ist gar nicht nötig, um dem durchgemengten Chaos von Alice Rohrwachers jüngstem Märchen, «La chimera», zu verfallen. Denn von verschiedenen Filmformaten über unterschiedliche Genres bis zu geradezu atemberaubenden Rhythmuswechseln beschwört dieser Film mitreissend die sinnlichen Qualitäten des Kinos.

Das titelgebende Wesen kommt dabei gar nicht vor, stattdessen dreht sich alles um eine Gruppe anarchischer Grabräuber. Aber ganz wie die Chimäre berichten auch sie von dem, was immer entwischt, wenn man zu verstehen glaubt. Es sind Menschen, nicht ganz aus dieser Welt, denn mit einem Bein stehen und stehlen sie in der Vergangenheit und mit dem anderen in der Gegenwart. Sie tanzen und torkeln durch die Landschaft, kennen weder Gesetz noch Skrupel. Das ist romantisch, und doch wartet unter ihnen ein Abgrund, den der Film nach und nach aufreisst.

Mal surreal, mal komödiantisch

Ihr Anführer ist ein Fremder, Arthur (gespielt von Josh O’Connor, bekannt für seine Darstellung von Prinz Charles aus «The Crown»), ein somnambuler Drifter, zu dem die Schätze der Etrusker direkt aus dem Boden sprechen. Wie in Trance führt er seine Gruppe zu verborgenen Gräbern. Rohrwacher zeigt diese Jagd nach dem Verborgenen mal surreal angehaucht, mal komödiantisch. Ihr Film setzt sich aus unzähligen Ideen und Stimmungen zusammen, es erstaunt, dass er nie auseinanderfliegt. Vermutlich liegt das an dieser ansteckenden Lust zu erzählen, die sich tatsächlich aus Märchen und Volkserzählungen speist und diese ins Kino überträgt.

Die Schätze verkaufen die Grabräuber an eine dubiose Schweizerin, die sie an Museen weiterreicht. Diese Praxis ist so gar nicht märchenhaft, gerade in den 1980er Jahren war der illegale Handel mit Grabräubern lukrativer als das Drogengeschäft in Europa und der Schweiz insbesondere. Dass Arthur nicht aus Italien stammt, wirft viele Fragen auf. Subtil spinnt der Film Fäden, die Abschottung und Ignoranz gegenüber dem Fremden mit einem Verlust der Beziehung zur eigenen Vergangenheit engführen.

Gleichzeitig trauert Arthur um seine verlorene Liebe, Beniamina, von der er in rauschenden 16-mm-Flashbacks träumt. Gegenlicht, Handkamera und eine lockere, wilde Montage vermitteln dabei einen Geschmack für die zeitlose Welt des Films. Der junge Mann besucht Beniaminas Mutter (Isabella Rossellini), und selbst als sich eine Liebesgeschichte mit deren Bediensteter Italia (Carol Duarte) anbahnt, hängt er melancholisch dem nach, was einst war. Das Vergangene ist ihm eben näher als das, was sein könnte. Das wird spätestens klar, wenn Italia (selten hat ein Name mehr erzählt) eine kleine matriarchale Gemeinschaft gründet, Arthur sich aber aus dieser davonstiehlt, um sich weiter in den Abgrund zu graben.

Mit «La chimera» tritt Alice Rohrwacher in die Fussstapfen von Pasolini (2)

Seine Haltung darf wie vieles im Film als parabelhafter Kommentar zur Wirklichkeit verstanden werden. Zwischendurch ordnet gar ein Volkssänger in didaktischen Liedern die Erzählung ein. Die Moral des Märchens? Es gibt andere Werte als nur den des Geldes. Höhepunkt dieser moralischen Zuspitzung ist eine brechtianische Szene, in der sich die Schweizer Händler und die Grabräuber gegenüberstehen und dabei bellen und kläffen wie Hunde. Die Anklage gilt dabei nie den Menschen, die Rohrwacher stets liebevoll und mit zugeneigtem Humor betrachtet. Sie gilt den Systemen, in denen diese Menschen leben müssen.

Rohrwacher setzt mit ihrem humanistischen Blick, der auch die Toten, die Pflanzen und die Tiere einschliesst, dort an, wo sie mit «Le meraviglie» und «Lazzaro felice» aufhörte. Sie lässt ein dekadentes, zynisches Italien auf mögliche Utopien treffen und zeigt damit auf, wie weit sich ihr Heimatland von einem gesunden Verhältnis zur Wirklichkeit entfernt hat. In diesem Fall arbeitet sie sich vor allem an einem Verhältnis zur Vergangenheit ab. Sie kritisiert den blinden Fortschrittsglauben zulasten spiritueller Werte. Das klingt auf den ersten Blick konservativ, trifft aber auf drängende Fragen zum Umgang mit dem Planeten und liefert radikale Ansätze für ein anderes soziales Zusammenleben.

Neue Generation des italienischen Films

Damit schliesst sich die Filmemacherin gleichsam einer aufregenden Kinobewegung an, die seit etwas mehr als einem Jahrzehnt das italienische Kino auszeichnet. Filmemacher wie Michelangelo Frammartino («Il buco», «Le quattro volte») oder Pietro Marcello («Martin Eden», «L’envol») stellen wie Rohrwacher mit ihren Filmen einen Kontakt zur Natur her, der gleichermassen romantisch wie politisch ist. So gibt es in ihren Filmen keine Hierarchie zwischen den Lebewesen, der Mensch wird als Teil grösserer Systeme verstanden, die er zerstört.

In ihren Filmen gibt es folglich eine zyklische Zeitwahrnehmung, in der Traditionen und Wunder eine Rolle spielen. Damit treten diese Filmschaffenden in die Fussstapfen von Kinovisionären wie Pier Paolo Pasolini oder Ermanno Olmi. Diese neue Generation italienischer Filmemacher wagt die Überwältigung. Sie nutzt dafür keine Spezialeffekte oder Sci-Fi-Tropen, sondern die Kraft der Wirklichkeit. Im besten Fall lehren Rohrwacher und Co. das Staunen, man erkennt, von welcher Schönheit man umgeben ist.

«La chimera» ist ein Plädoyer für eine Welt, die älter ist als die gesellschaftlichen Werte, die sie heute bestimmen mögen. Es geht darum, dass man nicht alles wissen und schon gar nicht besitzen muss. Dass die Filmemacherin neben der Chimäre auch noch die Metapher durchziehender Vögel bemüht, unterstreicht ihren Appell an menschliche Demut im Gegensatz zu kapitalistischer Ruchlosigkeit. Der Mensch ist zu Gast auf dem Planeten, er zieht nur durch. Ein einzelnes Leben ist ein Witz im Vergleich zur grossen Geschichte. Zu glauben, dass solche Botschaften etwas bewegen, ist womöglich ein bisschen naiv, aber so sind Märchen nun mal, und es ist kein Geheimnis, dass sie doch die Wahrheit sagen.

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