ORF.at: Es heißt, sie haben eine regelrechte Kartografie für die Planung ihrer Filme entwickelt. Was darf man sich darunter vorstellen?
Alice Rohrwacher: Ja, das habe ich tatsächlich (lacht). Nicht, dass es so etwas wie einen theoretischen Überbau gibt bei meinen Filmen. Diese Kartografie ist eher etwas, das ich für mich mache, es ist eine hilfreiche Technik.
Ich zeichne auf durchsichtigem Papier, das so wirkt, als hätte man Fett draufgeschmiert, verschiedene Linien auf, auf jedes Papier eine. Die Linien können hoch- und wieder runtergehen, je nachdem, was gerade passiert. Die Zeitachse ist für alle Papiere gleich. Es gibt Papiere für verschiedene Personen und Handlungselemente. Wenn man die Papiere dann übereinander legt, überschneiden sich die Linien, und es ergibt sich ein Gesamtbild. Das ist dann die Timeline, mit der ich arbeite.
ORF.at: „Lazzaro felice“ ist in seiner emotionalen Opulenz und seiner schwelgerischen Märchenhaftigkeit ein sehr romantischer Film. Würden Sie sich als Romantikerin bezeichnen?
Rohrwacher: Natürlich, wir sind schließlich gerade in Wien, und wer ist hier nicht romantisch (lacht)? Aber es stimmt, ich bin nicht nur eine romantische Person, sondern bekenne mich sogar zu einer richtig primitiven Form des Romantizismus.
ORF.at: Deshalb auch die Form des Märchens?
Rohrwacher: Gerade heute ist das Märchen wieder eine wirksame, eine gute Form. Wir leben im Zeitalter der absoluten Bildproduktion, der Reizüberflutung, Bilder werden aggressiv eingesetzt, sie müssen konsumiert werden. Da kann man eigentlich nur mit der Form des Märchens dagegenhalten und dem widerstehen. So, wie man im Zeitalter von Smoothies und Shakes einfach wieder damit anfangen sollte, einen guten alten Apfel zu essen.
ORF.at: Die Bibel ist in diesem Sinne für Sie ein Märchenbuch, dem Sie die Figur des Lazarus entlehnt haben?
Mein Lazzaro ist eine biblische Figur, aber sicher nicht der, den die Bibel beschreibt. Mit dem Namen lässt sich eine Geschichte erzählen. Der Name selbst birgt durch die biblische Geschichte schon ein Schicksal in sich selbst. Die Bauern im Film haben übrigens alle biblische Namen. Sonst gibt es in ihrer Welt ja nur wenig, eigentlich nur das, was die Feudalherrin ihnen zugesteht. Ihr kleiner Wissenspool beschränkt sich fast ausschließlich auf die Bibel. Deshalb lässt sich ihr Schicksal am besten anhand ihrer biblischen Namen erzählen. So auch bei Lazzaro, mit seinem Tod und der Wiedergeburt, überhaupt mit seiner ganzen Existenz als armer Schlucker …
ORF.at: Adriano Tardiolo, der den Lazzaro spielt, ist ja ein Laie. Wo haben Sie ihn aufgetrieben – die Rolle scheint ihm ja auf den Leib geschneidert zu sein?
Rohrwacher: Das war tatsächlich nicht leicht. Wir sind ewig lange durch Italien gereist und haben Hunderte junge Männer gecastet, an den unterschiedlichsten Orten. Tardiolo haben wir dann schließlich in einer Schule für Betriebswirtschaftlehre gefunden.
Die Art und Weise, wie wir ihn gefunden haben, hat uns besonders begeistert, ja, regelrecht umgehauen. Er kam auf uns zu, und wir fragten ihn, ob er die Rolle haben wolle. Er winkte energisch ab und sagte Nein, er frage nur für einen Freund, den er für den Richtigen halte. Das hat uns beeindruckt – dass er selbst nicht ins Rampenlicht wollte. Genauso hätte sich unsere Filmfigur Lazzaro verhalten.
ORF.at: Ganz anders ist Tancredi, Lazzaros Freund. Der wird ausgerechnet von Italiens größtem YouTube-Star Luca Chikovani gespielt. Wieso wollten Sie ihn für die Rolle?
Rohrwacher: Eben weil er ganz anders ist als Tardiolo. Wir haben diesen Grundkontrast gesucht. Wir brauchten einen Typen genau wie ihn, der ein Prinzip so verkörpert, als würden wir eine wahre Geschichte nacherzählen. Wie in jedem Märchen ist es wichtig, dass die Figuren Symbole verkörpern. Der Film ist kein analytischer, sondern ein symbolischer.
Und die beiden sollten möglichst unterschiedlich aussehen. Ich habe mit meiner Casterin Chiara Polizzi viel nachgedacht über die Besetzung. Eigentlich ist unser Tancredi ein Opfer seiner eigenen Fantasie. Wo trifft man heute auf solche Figuren? Auf YouTube! Außerdem ist Chikovani sehr talentiert.
ORF.at: Der Film beruht im Kern auf einer wahren Geschichte. Was hat es damit auf sich?
Rohrwacher: Es gab viele solche Geschichten, aber der Film bezieht sich vor allem auf eine ganz bestimmte. Es gab, besonders bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts, eine Art der Sklaverei, die noch auf dem feudalistischen System alter Tage beruhte. Rechtlich wurde diese Art von Leibeigenschaft erst im Jahr 1982 in Italien abgeschafft – erst dann hatten alle Arbeiterinnen und Arbeiter ein Anrecht auf Anstellung und Löhne.
In einigen Fällen war es aber so, dass isolierte Gesellschaften von ihren Herren nicht über die Gesetzesänderung benachrichtigt wurden. Die sogenannten Herren haben sich gedacht: Lieber einmal nichts sagen, vielleicht kommen sie ja ohnehin von selber drauf. Das war nur deshalb möglich, weil das System so alt und dadurch so stark in den Köpfen der Menschen verankert war. Und in einem Fall gab es eben eine Grundherrin, die ihre Leibeigenen noch 15 weitere Jahre versklavt hat – bis 1997. Auf diese Geschichte beziehen wir uns.
ORF.at: Neben Lazzaro und Tancredi sind die Locations die weiteren Hauptrollen – das mittelalterlich anmutende Dorf, die retrofuturistische Barackenlandschaft am Stadtrand. Was war Ihnen da wichtig?
Rohrwacher: Wir wollten echte Locations haben, aber trotzdem solche, die man nicht wiedererkennt, weil sie so speziell sind. Sie sollten nach Erinnerungen an Orte ausschauen, nach imaginierten Erinnerungen an das Land und an die Stadt.
Außerdem … Das ist jetzt schwierig zu erklären … Die Locations sollten ein gewisses Schamgefühl haben. Sie sollten nicht spektakulär, nicht aufdringlich sein, so wie Lazzaro eben. Solche Locations muss man natürlich richtig suchen. Wir haben sie gefunden und dann viel an ihnen weitergearbeitet. Die Villa im Dorf war etwa wirklich da, aber nicht bewohnt. Ähnlich wie die Zisterne am Stadtrand. Das schafft, gemeinsam mit den stilisierten armen Menschen, Romantik.
Wir haben auch in dieser Hinsicht versucht, mit der Vostellungswelt von Märchen zu arbeiten. Ich habe mit meiner Bühnenbildernin Emita Firigato intensive Gespräche gefühlt: Wie schauen die Armen aus, wo wohnen sie? Das ist immer heikel, man gleitet schnell in das Abgefuckte ab oder in allzu verklärende Romantik. So wie die Zisterne, in der die Armen in der Stadt wohnen, ein bisschen wie Mäuse, die einen Schuh bevölkern.